Afghanische Schulen auf gespaltener gesellschaftlicher Basis
Afghanistan ist seit 1747 ein selbständiger Staat. Eine Kolonie war das Land nie, geriet aber im 19. Jahrhundert zwischen das russische und das britische Kolonialreich, die beide eifersüchtig darüber wachten, dass weder die andere Großmacht, noch ein drittes Land dort Fuß fassten. Das hielt Afghanistan rückständig. Eine Eisenbahn konnte z.B. nicht gebaut werden.
Schon vor dem ersten Weltkrieg reisten immer mehr Afghanen ins Ausland, auch nach Europa und Amerika. Dort sahen sie Fabriken, Krankenhäuser, Universitäten und schneidig herausgeputztes Militär. Die Reisenden waren tief beeindruckt. Sie schämten sich, weil ihre Heimat ihnen sehr zurückgeblieben vorkam. Wieder zu Hause drängten sie darauf, Afghanistan ebenfalls zu einem modernen Land zu reformieren. Viele, vor allem einflussreiche Afghanen ließen sich anstecken. Alle wollten ein modernes Afghanistan. 1919 kam mit Amanullah ein neuer Herrscher an die Macht. Er nannte sich nicht mehr Emir, wie sein Vater, sondern König.
Er führte vieles ein, was es in den modernen Ländern gab: Ein Kabinett mit Fachministerien und Heerscharen von Beamten, Wehrpflicht und Schulpflicht, ein neues Straf- und ein Zivilgesetzbuch nach europäischem Vorbild. Die kleine aber einflussreiche Gruppe derjenigen, die die Moderne wollten, war begeistert.
Die Bevölkerung musste ihre Söhne, die für die Arbeit im Haus und auf den Feldern gebraucht wurden, in die Schulen und zum Militär schicken. Mädchen sollten täglich zur Schule gehen, und die Eltern hatten keine Kontrolle rüber den Schulweg.
Am wenigsten gefielen die Reformen den Mullahs. Bisher hatten sie das Monopol dafür gehabt, Kindern das Lesen und Schreiben beizubringen. Genauer: Wenn ein Mullah selber Lesen und Schreiben konnte, brachte er das auch Kindern seiner Gemeinde bei, die ohnehin zur religiösen Unterweisung in die Moschee kamen. Jetzt sollte die Jugend in die staatliche Schule gehen. Der Mullah wurde nicht mehr zur Alphabetisierung gebraucht. Das Rechtswesen war bisher in der Hand von Kadis, also von religiös ausgebildeten Richtern. Die richteten nach dem Scharia-Recht. Jetzt mussten sie sich die Rechtsprechung mit staatlichen Richtern, Staats- und Rechtsanwälten teilen, die das Recht nach fremden Büchern auslegten.
Die Menschen hatten sich bisher darum bemüht, nach den Weisungen ihres Mullahs gottgefällig zu leben. Jetzt sollte vieles anders werden, damit es in Afghanistan so würde wie in den Ländern der Ungläubigen. „Will König Amanullah den Islam abschaffen?“ fürchtete man. Amanullah erklärte nichts. Er befahl. Das Volk hatte zu gehorchen. Die Menschen wurden unruhig. Die Mullahs befeuerten die Unruhe. Sie predigten, dass es Sünde sei, die Kinder in die staatliche Schule zu schicken. 1929 brach ein Aufstand aus. König Amanullah verzichtete auf den Thron und ging ins Ausland, um größeres Blutvergießen zu verhindern.
In der Türkei liefen sehr ähnliche Entwicklungen ab. Die Türkei wurde Republik. In Afghanistan behauptete sich das Königshaus und gab die Reformen nicht auf. In grimmiger Feindseligkeit standen den Verfechtern der Reformen die Konservativen gegenüber – die Mehrheit der Bevölkerung angeführt von der islamischen Geistlichkeit. Zu denen, die den Fortschritt verkörperten, zählten bald auch kommunistische Bewegungen. Sie polemisierten gegen die Mullahs und den Islam. Die Mullahs erinnerten sich an die ruhmreiche Vergangenheit ihrer Religion und sahen die Zukunft des Islam in einer Rückkehr zu den Zuständen zu Zeiten des Propheten Mohammed. In Kabul gab es in den frühen 1970er Jahren jede Woche Demonstrationen von Oberschülern und Studenten, die oft in Massenschlägereien zwischen Islamisten, Maoisten und moskautreuen Kommunisten ausarteten. Dabei gab es zahlreiche Tote.
1978 putschten sich moskautreue Kommunisten an die Macht und versuchten ihre Vorstellungen durchzusetzen. Die Bevölkerung wehrte sich mit Waffengewalt und wurde dabei vom Westen und von islamischen Ländern unterstützt. Die Sowjetunion ging unter. Afghanistan versank im Bürgerkrieg. Der Westen versuchte in Afghanistan eine Demokratie mit Menschenrechten und Gleichberechtigung der Frau einzuführen. Das überforderte die afghanische Gesellschaft. 2021 setzte sich – auch dank pakistanischer Waffenhilfe – die radikal-islamische Taliban-Bewegung durch.
Die Tradition und die Mullahs hatten sich gegen die verschiedensten Richtungen der Moderne durchgesetzt. Aber sind die Taliban von 2021 noch die Mullahs von 1929 oder von 1978? Teilweise schon. Viele Männer hatten für die Taliban gekämpft, weil ihnen die Mullahs gesagt hatten, dass „Schule Sünde“ sei. Gegen diese Sünde hatten sie gekämpft. Davor wollten sie ihre Schwestern schützen. Die Taliban hatten Afghanistan bereits von 1996 bis 2001 beherrscht. Damals hatten sie mich dazu genötigt, mit ihnen ein Schulprogramm in Moscheen durchzuführen, das auch Mädchen besuchten. Ich lernte viele Taliban, auch Mullahs, kennen, die sehr vernünftige Ideen für die Zukunft ihres Landes hatten. Allerdings waren sie insofern Patrioten, als sie die Zukunft Afghanistans nicht dem Ausland überlassen wollten. Große Teile der jetzigen Taliban-Führung sind in hohe Positionen gelangt, weil sie militärisch mit Pakistan zusammengearbeitet haben. Jetzt sind sie Minister und wollen Afghanistan voranbringen. Sie wissen, dass das nur durch ein die ganze Bevölkerung erfassendes effizientes Bildungswesen und durch konstruktive Zusammenarbeit mit anderen Ländern möglich ist.
Aber es gibt auch den anderen Teil der Taliban-Bewegung, der noch die alte Feindschaft gegen Schulen pflegt. Gab es früher den Gegensatz „für und gegen Schulen“ in der Gesellschaft, so hat die Taliban-Bewegung diesen Gegensatz jetzt selber verinnerlicht. Die Bevölkerung denkt über Schulen und Ausbildung aktiver nach. Afghanische Kollegen meinen, das läge daran, dass viele ihrer Landsleute in den Ölländern arbeiten. Dort müssen sie erleben, dass Afghanen unter all‘ den Gastarbeitern zu den Ungebildetsten zählen. Sie müssen die schwerste körperliche Arbeit verrichten und werden am schlechtesten bezahlt. Jeder Afghane lässt seine Frau oder seine Mutter lieber von einer Ärztin behandeln als von einem Arzt, zumal die strikten Regeln der Geschlechtertrennung, die die Taliban erlassen haben, das ohnehin verlangen. Aber jeder hat verstanden, dass Afghanistan die Ärztinnen ausgehen werden, wenn Mädchen nur sechs Jahre in die Schule gehen und nicht studieren dürfen. Auch diejenigen, die die Macht des Islam in seiner Glanzzeit zurückwünschen, möchten nicht auf Flugzeuge, Autos und Mobiltelefone verzichten. Sie wissen, dass diese schönen Dinge nicht ohne technisches Wissen zu haben sind. Schulen werden sich in Afghanistan durchsetzen.
Doch aktuell haben sich die Taliban einen Emir als Staatoberhaupt ausgesucht, der sich gegen den Schulunterricht für ältere Mädchen und die Ausbildung von Frauen ausgesprochen hat. Die Taliban müssen diese Anordnung ihres Anführers in gewissem Maße respektieren, wenn ihre Bewegung nicht im Chaos enden soll. Die aktuelle Situation ist unerfreulich. Der Kampf um Schule und Ausbildung tobt naturgemäß besonders im Erziehungsministerium. Dort findet man Seilschaften beider Richtungen – sehr vernünftige Beamte, die froh sind, wenn irgendwo guter Unterricht stattfindet und wohlwollend beraten können, was für ein Unterricht für Frauen und Mädchen derzeit möglich ist – aber eben auch andere.
Als wir im Frühjahr 2023 nach Kabul kamen, wollten wir wissen, wie der Stand der Dinge ist. Wir baten Kollegen, ins Erziehungsministerium zu gehen, um sich von wohlwollenden Beamten informieren zu lassen. Sie stießen aber auf einen Vertreter der anderen Richtung. Der teilte ihnen mit, dass unsere Organisation ihren Status als ausländische Organisation aufgeben und eine afghanische Organisation werden oder schließen müsse. Die Kollegen fragten, ob der Beamte ihnen das schriftlich geben könne. Der Beamte verneinte. Er zeigte den Kollegen ein „sehr wichtiges Schreiben von ganz oben, auf dem das verfügt worden sei.“ Er zeigte das Schreiben aber von Ferne, so dass niemand es lesen konnte und sagte dazu: „Wenn ich Ihnen das schriftlich gebe, steht es morgen in den Zeitungen. Dann haben wir den größten Ärger. Das wollen wir uns ersparen.“ Was für ein Ministerium!
Afghanische Organisationen sind viel mehr der Willkür afghanischer Bürokraten ausgesetzt als ausländische. Afghanische Behörden können z.B. in Personalentscheidungen afghanischer Organisationen eingreifen. Der Beamte drohte nicht damit, unser Büro zu schließen, wenn wir nicht afghanisch würden. Das müssten wir selber machen. Vermutlich fürchtete man, dass die ausländischen Organisationen ihre erheblichen Mittel abzögen, wenn man ihnen direkt drohte. OFARIN denkt nicht daran, afghanisch zu werden. Aber auch im Falle, dass man uns dazu zwingt, gibt es längst Beziehungen zu geeigneten Partnern.
Unsere Klassen, die wir dem Erziehungsministerium gemeldet hatten, als wir den Partnerschaftsvertrag abschlossen, arbeiten weiter. Diese Klassen wurden sogar von Beamten des Ministeriums besucht, ausführlich geprüft und als gut beurteilt. Nur die Klassen in der Provinz Pandschir arbeiten nicht. Die Einwohner dieser Provinz hatten sich länger gegen die Taliban gewehrt und wurden mit dem Einsatz pakistanischer Drohnen und der Misshandlung von Einwohnern gefügig gemacht. Unsere Partner dort haben es bisher nicht gewagt, den Unterricht wieder zu beginnen. Die Lehrkräfte und der Trainer werden aber entlohnt.
In manchen Stadtteilen von Kabul und in den Provinzen Logar und Khost war der Unterricht noch nicht beim Erziehungsministerium angemeldet. Das Ministerium verschiebt diese Registrierung immer wieder. Das hat aber keinen Einfluss auf den Unterrichtsbetrieb. Der findet statt. Lehrkräfte und Trainer werden bezahlt. OFARIN hat unter den gegebenen Umständen keinen Ehrgeiz, das Unterrichtsprogramm auszudehnen. Die bestehenden Kapazitäten sind in der Lage, das Programm zu vergrößern, wenn die Voraussetzungen stimmen.